urbs-mediaevalis.de

8 Bauanalyse, stilistische Einordnung und Datierung

8.1.2.3.4 Obergadenfenster

 

Das Plattenmaßwerk der erhaltenen Obergadenfenster könnte ebenfalls einen Anhaltspunkt zur Datierung und stilistischen Einordnung der frühgotischen Basilika geben.  Michler vergleicht mit zahlreichen Fenstern aus dem Marburger und Arnsburger Umkreis sowie der Minoritenbaukunst.202 Nicht zuletzt durch den Vergleich der Maßwerkfüllungen ordnet er die frühgotische Alsfelder Basilika in den Umkreis der Benediktinerabtei in Tholey ein.203

Die Alsfelder Obergadenfenster zeigen je zwei Bahnen, die von gespitzten Kleeblattbögen abgeschlossen werden. Ein liegender Dreipass ist ein wenig zwischen die Spitzen eingesunken. Die Laibungen sind abgefast, so dass der Fensterpfosten einen polygonalen Querschnitt aufweist (Abb. 60). 

In Tholey ist die Fensterfläche wie in Alsfeld verhältnismäßig klein, was den hoch ansetzenden Pultdächern der Seitenschiffe geschuldet ist. Die Fenster sind im unteren Teil vermauert (Abb. 152), während in Alsfeld die relativ kleinen Fenster weit nach oben gerutscht sind und die leere Fläche der Sargwand nicht angetastet wird.

 
 
Abb. 60: Walpurgiskirche, Obergaden, Nordseite, zweites Joch von Westen,
Plattenmaßwerk [+]
  Abb. 152: Tholey, St. Mauritius, Langhaus nach Norden [+]
 
Michler konstatiert eine starke Übereinstimmung der Maßwerkfüllungen in Alsfeld und den älteren Bauteilen von Tholey. In Alsfeld sind die Fenster aber in der altertümlichen Technik des Plattenmaßwerks gearbeitet, in Tholey dagegen ist die Maßwerkgliederung zwar so stark, dass die Zwickel nicht durchbrochen sind, sie sind aber angedeutet, und somit liegt in Tholey kein Plattenmaßwerk vor (Abb. 172).

Zwar zeigen die östlichen Obergadenfenster in Tholey ein ähnliches Motiv wie in Alsfeld, ein Bogendreieck mit eingestelltem liegendem Dreiblatt über zwei genasten Spitzbögen, doch handelt es sich dabei um eine nicht gerade seltene Gruppierung von Elementen, die auch in der näheren Umgebung von Alsfeld in dieser Zeit häufig anzutreffen ist. So findet sich ein Dreipass über zwei gespitzten Kleeblattbögen beispielsweise auch im Ostfenster des Rechteckchores der bereits mehrfach erwähnten Michaeliskirche in Ehringshausen (Abb. 173). In Ehringshausen ist jedoch der Zwickel zwischen Kleeblattbögen und Dreipass sogar durchbrochen, die Füllung der übrigen Zwickel liegt nicht auf einer Ebene mit den erhaben herausgearbeiteten und profilierten Maßwerkformen, so dass man auch hier nicht von einem Plattenmaßwerk sprechen kann.
 
 
Abb. 172: Tholey, St. Mauritius, Obergadenfenster [+]   Abb. 173: Ehringshausen, Michaeliskirche, Ostfenster des Rechteckchores [+]

 

Im Chor der evangelischen Pfarrkirche von Wetter dagegen finden sich Fenster in frühgotischem Plattenmaßwerk, deren abgefastes Profil genau den Alsfelder Obergadenfenstern entspricht. In Wetter liegen drei gestapelte, kleinere Dreipässe oder  ein großer liegender Dreipass über den je nach Fensterbreite zwei oder drei Bahnen, die in gespitzten Kleeblattbogen enden (Abb. 174).204 Für den Vergleich mit Alsfeld bietet sich insbesondere das südwestliche Fenster des Chores an. Über drei Bahnen sind drei liegende Dreipässe gestapelt. Die Spitzen der Bahnen stoßen daher nicht, wie bei den zweibahnigen Fenstern, in die Sättel der liegenden Dreipässe vor, sondern die zwei unteren Dreipässe liegen mittig zwischen den Spitzen. Dieses Motiv findet sich in reduzierter Form in Alsfeld.
 
Abb. 174: Wetter, Pfarrkirche, Chorfenster auf der Südseite [+]

Der Chor der evangelischen Pfarrkirche von Wetter kann relativ präzise datiert werden. Das Dachwerk wurde im Rahmen der aufwändigen Gesamtsanierung der Jahre 1986 bis 2000 dendrochronologisch untersucht, für das Chordach wurde die Jahreszahl 1252 ermittelt.205 Mit dem Bau des Chores dürfte in den 1240er Jahren begonnen worden sein.206 Die Wetterer Chorfenster kämen somit zeitlich als Stichwortgeber für die Fenster der frühgotischen Basilika in Alsfeld in Frage.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass die evangelische Kirche in Wetter in den Jahren 1859-64 durch Georg Gottlieb Ungewitter renoviert wurde207 und in seinem „Lehrbuch der gotischen Konstruktionen“ breiten Raum einnimmt. Dieses Lehrbuch war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sehr populär, es erschien zwischen 1859 und 1901/03 in vier Auflagen. Laut dem für die Renovierung 1913/14 verantwortlichen Regierungsbaurat Kuhlmann war in Alsfeld das Maßwerk herausgebrochen worden, „bei den Herstellungen gelang es nun, aus den spärlichen Resten das Fenster zu rekonstruieren beziehungsweise in seiner alten Form wieder einzubauen.“208 
 
Denkbar wäre, dass sich Kuhlmann durch eine Zeichnung in Ungewitters Konstruktionslehrbuch anregen ließ, die genau das südwestliche Chorfenster zeigt, das in besonderer Weise als Vorbild für das Plattenmaßwerk der Alsfelder Fenster in Frage kommt (Abb. 175).209
In diesem Falle wäre das Plattenmaßwerk für einen dezidierten Formenvergleich und eine genauere Datierung nicht zu verwenden. Doch selbst wenn es Kuhlmann gelungen wäre, die Alsfelder Obergadenfenster originalgetreu zu rekonstruieren, so müsste man als Vorbild nicht die Benediktinerabtei Tholey im Saarland bemühen, sondern fände in unmittelbarer Umgebung von Alsfeld Plattenmaßwerkfenster, die für einen Vergleich viel eher in Frage kämen.
 
Abb. 175: Wetter, Pfarrkirche, Plattenmaßwerkfenster, Zeichnung von Ungewitter [+]
 

 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Dehio-Cremer I 2008. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen I, Regierungsbezirke Gießen und Kassel, bearb. von Folkhard Cremer, München [u.a.] 2008

Kuhlmann 1922. Kuhlmann, Friedrich: Die Wiederherstellung der Walpurgiskirche zu Alsfeld, in: Festschrift zur Siebenhundertjahr-Feier der Stadt Alsfeld, Alsfeld 1922, S. 137-149

Michler 1972. Michler, Jürgen: Die Walpurgiskirche zu Alsfeld. Ihre Baugeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung, in: Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, Alsfeld 1972, S. 65-99

Thiersch 2001. Thiersch, Katharina: Die Stiftskirche in Wetter. Instandsetzungs-, Restaurierungs- und Renovierungsmaßnahmen an Dachwerk, Gewölben und Fassaden, Raumschale und Ausstattung, in: Denkmalpflege & Kulturgeschichte, 2001, H. 2, S. 15-19

Ungewitter/Mohrmann 1890-1892. Ungewitter, Georg G.: Lehrbuch der gothischen Konstruktionen, neu bearb. von K. Mohrmann, 2 Bde., Leipzig 31890-1892


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

202 Michler 1972, S. 86 und S. 99, Anm. 24-26
203 Michler 1972, S. 84-85
204 In der Zisterzienserkirche in Haina finden sich in den östlichen Jochen der Langhausnordwand beide Motive, im Sockelgeschoss der große Dreipass, im Fenstergeschoss der dreifache Dreipass. Datierung dieses Bauabschnitts auf etwa 1255-70 (Dehio-Cremer I 2008, S. 372, Binding 1989, S. 202)
205 Thiersch 2001, S. 15
206 Dehio-Cremer I 2008, S. 943. Wenckebach 1964, S. 5 „um 1240“
207 Dehio-Cremer I 2008, S. 943
208 Kuhlmann 1922, S. 143-144
209 Ungewitter/Mohrmann 1890-1892, Tafel CXV
 
Abb. 60, 152, 172-174: Schmelz, Annette 2008
Abb. 175: Ungewitter/Mohrmann 1890-1892

 

Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche
Alsfeld“, in:  www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Schmelz, Annette PDF

 

print