urbs-mediaevalis.de

8 Bauanalyse, stilistische Einordnung und Datierung

8.4.2.1 Gesamtansicht

 
Der vom Baumeister intendierte Eindruck des spätgotischen Alsfelder Chores ist für den heutigen Betrachter nur noch vorstellbar, wenn er die Zutaten späterer Jahrhunderte vor seinem geistigen Auge auszuklammern vermag. Die umlaufende Chorempore, der auf ihr aufgestellte spätgotische Altaraufsatz und auch die auf einem Balken unter dem Triumphbogen aufgestellte Kreuzigungsgruppe verunklären den Blick. Am ehesten lässt sich die klare Struktur des Chores noch von einem Standpunkt unterhalb des Triumphbogens erkennen (Abb. 83).
 
Abb. 83: Walpurgiskirche, Chor [+]

 

Der 1353 geweihte Chorneubau in Frankenberg (Abb. 245), dessen Bauleitung vermutlich Meister Tyle von Frankenberg innehatte,282 scheint einen gewissen Einfluss auf den Alsfelder Chorneubau gehabt zu haben. Sicher sind ein 5/8-Chorschluss und dreibahnige, bis zum Kaffgesims reichende Maßwerkfenster nicht außergewöhnlich, doch gleicht der Alsfelder dem Frankenberger Chor noch in weiteren Merkmalen. Ein umlaufendes Kaffgesims teilt den Chor horizontal. In Frankenberg haben sich Reste der farbigen Glasfenster erhalten, auch in der Walpurgiskirche waren die Fenster ursprünglich farbig verglast.283 Das Sakramentstabernakel befindet sich in Alsfeld an gleicher Stelle wie in Frankenberg (Abb. 246).
Im Frankenberger Chor herrscht eine stringente Zuordnung von Diensten und Gewölbegliedern vor. An den Langseiten nehmen fünf Dienste den Gurtbogen, die Diagonalrippen und den Schildbogen auf, im Chorpolygon sind es drei Dienste. Jedem Dienst ist ein eigenes Kapitell zugeordnet.
 
 
Abb. 245: Frankenberg, Stadtpfarrkirche, Chor [+]   Abb. 246: Frankenberg, Stadtpfarrkirche, Chor, Sakramentstabernakel [+]

 

In der Walpurgiskirche dagegen ist die Zuordnung von Diensten und Gewölbegliedern eine andere. Beginnend auf dem Kaffgesims steigen einfache Dienststäbe auf, an den geraden Chorwänden als runde Dreivierteldienste, im Chorpolygon als geschärfter Rundwulst ausgebildet (Abb. 84). Auf den Kämpfern der Laubkapitelle beginnen die schmalen, beidseitig gekehlten Rippen und Gurte des Gewölbes, auf einen Schildbogen wurde verzichtet. Rippen und Gurtbögen haben wie im Langhaus unterschiedslos das gleiche gekehlte Profil, und wie im Langhaus lasten an den Chorlangseiten auf jedem Dienstkapitell jeweils ein Gurtbogen und zwei Diagonalrippen (Abb. 247). Die schmaleren  Dienstkapitelle im Chorpolygon haben jeweils nur einen Dienst zu tragen.
 
 
Abb. 84: Walpurgiskirche, Dienst, Kapitell und Fenstergewände im Chorpolygon [+]   Abb. 247: Walpurgiskirche, Chorgewölbe [+]

 

Im Frankenberger Chor sind die vom Boden aufsteigenden Dienste auf Höhe des Kaffgesimses durch Konsolen unterbrochen, auf denen wohl Statuen gestanden haben (Abb. 246). Über den vollständig ausgearbeiteten, spitzen Baldachinen setzt der Dienst wieder an. Die hohe Qualität des Bauschmucks fügt sich stimmig in das Gesamtbild der Frankenberger Kirche.

Auch im Chor der Walpurgiskirche dürfte sich an ähnlicher Position zumindest eine Statue befunden haben. In die nördliche Langchorwand ist auf der Jochgrenze oberhalb des Kaffgesimses eine etwa 1,57 m hohe Nische  in die Wand eingetieft,284 die von einem architektonisch gegliederten, polygonalen Baldachin überfangen wird (Abb. 248). Auf dem planen Abschluss des Baldachins sitzt ein Polygon, dessen Seitenflächen mit eingekerbten Lanzetten geschmückt sind. Darauf setzt der Dienst an, dessen Sockel die gleiche Grundform zeigt wie bei den anderen Diensten an den Langhauswänden.  Der Sockel wirkt oberhalb des Baldachins recht deplatziert, die einzelnen Elemente scheinen willkürlich aufeinandergestapelt wie Teile aus einem Baukasten. Hier zeigt sich, wie im Dienstsystem, die einfache Stilstufe des Alsfelder Chores.

 
Abb. 248: Walpurgiskirche, Chor, Baldachin an der nördlichen Langchorwand [+]
 

 
 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Gilsa/Leusler 1664. Gilsa, Moritz von/Leusler, Heinrich: Chorographia. Ausführliche und gründliche Beschreibung der Stadt und Bezirks Alßfeldt im Ober-Fürstentum Hessen gelegen, 1664, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 5, 1918-1925, Nr. 14-21, S. 82-162

Dehio-Cremer I 2008. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen I, Regierungsbezirke Gießen und Kassel, bearb. von Folkhard Cremer, München [u.a.] 2008


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

282 Dehio-Cremer I 2008, S. 235 - 237
283 Die Chorographia berichtet von farbig verglasten Fenstern, die das Leben Christi zum Thema gehabt hätten. Ein Fenster habe die Adelsfamilie Schaufuß gestiftet, ein anderes die Wollweberzunft. Die bereits beschädigten Fenster seien 1646 bei der Beschießung der Stadt Alsfeld endgültig zerstört worden. (Gilsa/Leusler 1664, S. 104)
284 Messung der Verfasserin
 
Abb. 83: Prometheus Bildarchiv
Abb. 84, 245-248: Schmelz, Annette 2008

 

Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche Alsfeld“, in:  www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php

 

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Schmelz, Annette PDF

 

print