urbs-mediaevalis.de

8 Bauanalyse, stilistische Einordnung und Datierung

8.4.1.1 Fenster

 
Die Chorfenster sind im Gegensatz zu den Seitenschiffsfenstern dreibahnig. Dies ist das einzige Zugeständnis an den höheren Rang des Chores, die Fensterlaibungen entsprechen mit ihren Kehlen und Fasen der Form der Seitenschiffe, das Stabwerk ist beidseitig gekehlt wie im nördlichen Seitenschiff.272 Die Bahnen enden in genasten Bogen, die Nasen sind wie im nördlichen Seitenschiff deutlich von der Bahn abgegrenzt. Die Stege der Formen erster Ordnung und zweiter Ordnung scheinen miteinander verschmolzen zu sein.

Das Maßwerk mehrerer Fenster zeigt parlerische Formen, die um 1400 im untersuchten Kunstraum heimisch geworden waren. Im Folgenden soll die Formengenese an ausgewählten Fenstern exemplarisch beschrieben werden.
Im westlichen Fenster auf der Chornordseite sind je zwei genaste Spitzbogen der Bahnen von sich verschneidenden Korbbogen zusammengefasst,  im Couronnement steht ein Kreis mit eingeschriebenem Vierpass (Abb. 222). Ein ähnliches Motiv findet sich am Chorscheitelfenster des Fritzlarer Domes, das nachträglich in den spät-romanischen Chor eingefügt wurde (Abb. 223).
 
 
Abb. 222: Walpurgiskirche, Chor, Nordseite, westliches Fenster [+]   Abb. 223: Fritzlar, Dom, Chorscheitelfenster [+]

 

Die verschneidenden Korbbogen deuten nach Humbach auf eine Datierung frühestens Ende 14., eher jedoch in das 15. Jahrhundert.273 Im Scheitel des Bogenfeldes steht in Fritzlar ein Bogenviereck mit eingeschriebenem Vierblatt. Die gleiche Form zeigt ein Fenster im östlichen Langhausjoch der Friedberger Pfarrkirche, das auf die Zeit um 1365-70 zu datieren ist. Einige Chorfenster in Homberg/Efze kombinieren die Formen, über den zusammengefassten Bahnen findet sich ein Bogenviereck mit eingeschriebenem Kreis, dem ein stehender Vierpass eingeschrieben ist, flankiert wird die Form von zwei kleineren Kreisen. In Homberg/Efze wurde 1340 mit dem Bau des Chores begonnen.274

Im Bogenscheitel des westlichen Fensters auf der Südseite des Alsfelder Chores steht ein Vierblatt (Abb. 224). Der Spitzbogen des Fensters bildet über ihm zwei Seiten eines Bogenvierecks aus, während es im unteren Bereich mit geraden Seiten abschließt. Jeder Geraden ist ein leicht gedrückter, genaster Halbkreis angefügt. Der Zwickel zwischen den Radien wird von einem Spitzbogen ausgefüllt, der die mittlere, korbbogig abgeschlossene Fensterbahn gleichsam nachträglich erhöht.
 
Abb. 224: Walpurgiskirche, Chor, Südseite, westliches Fenster [+]

 

Das vor 1341 vollendete Langhaus des Heiligkreuzmünsters in Schwäbisch Gmünd275 zeigt am zweiten und vierten Langhausfenster von Westen im Scheitel des Bogenfeldes ein Bogenviereck, dem ein stehendes Vierblatt eingeschrieben ist (Abb. 225), die weiteren Binnenformen interessieren an dieser Stelle nicht. Die unteren Seiten des Vierecks werden von zwei Bogendreiecken flankiert, die ihre Spitzen auf die Spitzbogen der beiden äußeren, niedrigeren Bahnen des dreibahnigen Maßwerkfensters absenken.
 
Abb. 225: Schwäbisch Gmünd, Heiligkreuzmünster, Langhausfenster [+]

 

Mehrere Fenster am nördlichen Querhaus der Frankfurter Bartholomäuskirche kopieren das Vorbild recht genau. Die Bogendreiecke sind weder mit dem Bogenviereck noch mit der Fensterlaibung verschmolzen, sondern stehen als getrennte Einheiten nebeneinander. Im Laufe der weiteren Rezeption erfolgt eine Verschmelzung, die Bogendreiecke werden den unteren Seiten des Bogenvierecks angefügt, eine ihrer Seiten ist dadurch konkav eingeschwungen. Diese Entwicklung lässt sich an einigen hessischen Kirchen gut verfolgen, so am südlichen Seitenschiff der Fritzlarer Minoritenkirche im frühen 14. Jahrhundert (Abb. 226), im vierten Joch des Langhauses von Friedberg sowie an einem Fenster auf der Südseite der Stadtkirche von Homberg/Efze, das in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts zu datieren ist (Abb. 227). 
 
 
Abb. 226: Fritzlar, Minoritenkirche, Südseitenschiff, Fenster [+]   Abb. 227: Homberg/Efze, Stadtpfarrkirche, Südseitenschiff, Fenster [+]

 

Das Homberger Fenster könnte als Vorbild für das Alsfelder Fenster gedient haben. In beiden Fällen scheinen die Formen von oben her entwickelt, von dem bekrönenden Vierblatt aus. In Alsfeld wirken die Formen jedoch unbeholfen. Das Viereck ist von zwei gebogten und zwei geraden Seiten begrenzt. Durch die seitlich erhöhten Lanzetten fehlt der Platz, das Viereck auch am unteren Rand auszubogen und den verbleibenden Platz mit Bogendreiecken zu füllen.

In einem Fenster auf der Nordseite des Alsfelder Chores findet sich eine Maßwerkform, die sich ebenfalls auf parlerische Vorbilder zurückführen lässt. Auf den Scheiteln der Fensterbahnen stehen zwei genaste Spitzbogen. Auf ihren Spitzen ruht ein dritter Spitzbogen (Abb. 228). Kein Teil ihres Bogens ist mit dem Fensterbogen identisch, sondern sie verlaufen ein kleines Stück entfernt von diesem, zwischen den unterschiedlichen Bogenradien besteht ein gewisses Spannungsverhältnis.
 
Abb. 228: Walpurgiskirche, Chor, Nordseite, Fenster im Chorpolygon [+]

 

Ein Maßwerkfenster des Schwäbisch Gmünder Chores könnte hier das Vorbild gegeben haben (Abb. 229). In Schwäbisch Gmünd ruht jedoch nur ein Bogen auf den Scheiteln der Fensterbahnen, er ist wie die Bahnen mit Kleeblattbogen und einem bekrönenden Dreipass gefüllt, seine Form wirkt ausgewogen und harmonisch. Die freibleibenden Zwickel sind mit kleinen Bogendreiecken gefüllt.

Das Fenstertympanon am Westportal der Stadtpfarrkirche von Homberg/Efze zitiert das Schwäbisch Gmünder Fenster. Die Formen werden jedoch leicht abgeändert, je zwei der vier genasten Lanzetten werden von genasten Spitzbogen zusammengefasst (Abb. 230). Damit könnte das Homberger Tympanon als Bindeglied zum Fenster der Walpurgiskirche gesehen werden, das diese Form, erneut vereinfacht, übernimmt.
 
 
Abb. 229: Schwäbisch Gmünd, Heiligkreuzmünster, Chorfenster [+]   Abb. 230: Homberg/Efze, Stadtpfarrkirche, Westportal, Tympanon [+]

 

Literatur- und Quellenverzeichnis

Dehio-Cremer I 2008. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hessen I, Regierungsbezirke Gießen und Kassel, bearb. von Folkhard Cremer, München [u.a.] 2008

Humbach 2005. Humbach, Rainer: Dom zu Fritzlar, Petersberg 2005

Schurr 2003. Schurr, Marc C.: Die Baukunst Peter Parlers. Der Prager Veitsdom, das Heiligkreuzmünster in Schwäbisch Gmünd und die Bartholomäuskirche zu Kolin im Spannungsfeld von Kunst und Geschichte, Ostfildern 2003


Anmerkungen und Abbildungsverzeichnis

272 In Homberg/Efze beispielsweise wird dagegen dezidiert unterschieden zwischen dem einfachen Gewände der Langhausfenster und den mehrfach profilierten Laibungen der Chorfenster.
273 Humbach 2005, S. 99
274 Dehio-Cremer I 2008, S. 433
275 Schurr 2003, S. 29
 
Abb. 222-224, 226-228, 230: Schmelz, Annette 2008
Abb. 225, 229: Schurr 2003

 

Zitiervorschlag:
Schmelz, Annette (2008): „Walpurgiskirche Alsfeld“, in:  www.urbs-mediaevalis.de/pages/staedtetopographie/bull-staedte-a/alsfeld/kirchplatz-1.php

 

Autorengruppe: Studentin / Studentletzte Aktualisierung dieser Seite: 07. Juni 2019
Autorin(nen) oder Autor(en)
: Schmelz, Annette PDF

 

print